kritische texte
Big Bang
von Marco Meneguzzo
Kunst als Imitation der Natur ist ein Konzept, das im Lauf der Zeit verschieden interpretiert wurde, zunächst als sublime Definition der klassischen Kunst, dann, ausgehend von idealistischen Theorien Mitte des 19. Jahrhunderts, als schweres Vermächtnis einer Tradition, die es zu zerstören galt, schließlich – in der vollen Blüte der Moderne des 20. Jahrhunderts – als Gedanke an die Geschichte und deshalb an die Vergangenheit, von geringer Nützlichkeit für eine so raffinierte und linguistisch autonome Gegenwart, die auch gut ohne den direkten Kontakt mit den Dingen auskam. Heute jedoch akzeptiert das große postmoderne Sammelsurium wahllos – und mit etwas Gleichgültigkeit – jede ideale Erklärung, prüft aber doch deren Effizienz im Bereich der Massenmedien. Man braucht sich also nicht davor zu fürchten, zu behaupten, dass Kunst auch eine Imitation der Natur sein kann (eine ganz andere weil viel offenere Feststellung als die anfängliche Behauptung, die jede andere Möglichkeit ausschloss) und, dass das Problem nicht sosehr in der Wahrhaftigkeit der Theorie, sondern in der Wirkung der Praxis liegt.
Wenn man also heute behauptet, dass Giuseppe Scaiola ein Künstler ist, der die Natur imitiert, gibt es weniger jenen konzeptuellen Einhalt, der ihn noch vor wenigen Jahren in den Kreis der Tradition verbannt und ihn a priori von der Avantgarde-Szene ausgeschlossen hätte: Die Natur ist letztendlich zu einem “autorisierten” Thema mit allen Rechten geworden – aus dem einfachen Grund, dass alle Themen mehr oder weniger gültig sind. Die Frage ist also nicht mehr sosehr allgemein theoretisch als vielmehr individuell und strategisch: Welche Natur? Und wie?…
Die Arbeit von Scaiola wirkt auf Anhieb wie ein intelligenter Kompromiss zwischen einer Vision der Natur und der Sprache der Dekoration, wobei man unter Dekoration jene uralte – vielleicht die erste absolute – Tendenz der Kunst versteht, das Symbol oder das Objekt durch das abstrakte Zeichen wiederzugeben: Eine gewollt reduzierte Palette an Farben – weiß, schwarz und zwei oder drei verschiedene Grüntöne- erfüllt die Leinwand und das Auge nicht sosehr mit einem Bild sondern mit einem Eindruck. Es entsteht der Eindruck von etwas “Organischem”, von einem unentwirrbaren Magma aus dem die ganze Natur der Welt hervorgeht: Das Leben ist grün und Scaiola lässt es in üppiger Weise explodieren (ein Adjektiv, das seit Grundschulzeiten den tropischen Wäldern zugeordnet wird…), oder, mit einer leichten chromatischen Variation des Karmins, wird das, was unvermeidlich das Zeichen der Blätter war, zum Zeichen der Blume. Es ist stets verblüffend festzustellen, wie eine minimale linguistische Variation – in unserem Falle eine Farbveränderung, wobei Zeichen und Komposition gleich bleiben – im Kopf eines Betrachters völlig verschiedene Bilder hervorrufen kann. Vor allem ist es verblüffend, zu denken, wie ein theoretisch unabhängiges expressives Instrument, wie die Farbe auf einer Leinwand, das Gehirn dazu zwingt, mit Analogien zu arbeiten. Sie zwingt also dazu, den Gedanken in etwas Bekanntem zu “verankern”, wodurch das “Grün” üblicherweise zum “Grün der Blätter” wird oder das “Schwarz”, das als Hintergrund für ein Zeichen verwendet wird, zum “Schwarz der Nacht” wird.
Scaiola ist sich dieses Mechanismus voll und ganz bewusst, sodass er ihn in seinen Bildern ausnutzt und akzentuiert, die eben dadurch “naturalistisch” und alles andere als abstrakt werden.
Wenn aber sein Ziel und seine Methode einfach nur darin bestünden, hätten wir nur einen exzellenten Erneuerer der landschaftlichen Tradition vor uns, einen Maler, der eine interessante Variante zur kodifizierten Darstellung der Natur gefunden hat: es würde sicherlich für eine Schrift, für eine Analyse und für einen “postmodernen” Blick auf die Wiederaufnahme und die Wiederentdeckung von Themen ausreichen, die während der Moderne vernachlässigt wurden, der Beweis, dass “alles funktionieren kann”, dass alles akzeptiert wird, aber gleichzeitig wäre es nur eine substantiell zerstreute, tendenziell statistische Feststellung und letztendlich ziemlich weit entfernt vom wahren Motiv der Werke Scaiolas. Wenn es nämlich stimmt, dass, auch wenn wir uns auf eben Gesagtes beschränken, seine Arbeit zum großen künstlerischen Konzept der “Imitation” gehört, so stimmt es auch, dass Scaiola dieses Konzept ausarbeitet, indem er es in die Praxis der Arbeit und nicht nur in sein oberflächliches, d.h. sichtbares Ergebnis einbezieht.
Mit anderen Worten, der Künstler “imitiert die Natur” in der Entstehung seiner Werke, vor der Darstellung der Natur, oder, besser gesagt, seine Bilder entstehen, wachsen, entwickeln sich wie ein natürlicher Organismus, der in der direkten Folge auch diesen organischen Charakter aufzeigt. Es ist kein Zufall, dass sich seine Werke in einer Reihe von Bildern und nicht nur auf dem Bild selbst entwickeln, oft in einer Art “Zoom” von außen nach innen; dass die Sequenz vom Kleinen zum Großen geht oder umgekehrt; dass uns der Künstler innerhalb von Naturfragmenten begleitet und uns zu verstehen gibt, dass der gesamte Platz rundherum möglicherweise von derselben unentwirrbaren organischen Masse eingenommen wird… aber vor allem ist es kein Zufall, dass Scaiola seine Arbeiten mit einer die Natur “imitierenden”, mimetischen Methode kreiert. Er schafft sie nicht nur mit bloßen Händen, ohne einem Pinsel, sondern schreitet sehr schnell voran, reiht die Bilder nacheinander auf, arbeitet mit der Geschwindigkeit mit der sich eine Zelle in einem Film im Zeitraffer vervielfältigt und mit der Konsequenz mit der sich – in demselben hypothetischen Film- die Flüssigkeiten kristallisieren (ich denke hier, z.B. an Werke wie “Sciame” (Schwarm) aus dem Jahr 2000, bestehend aus 13 Bildern nebeneinander…).
Jedes Bild von Scaiola hat einen Ursprung, einen Ausgangspunkt, einen eigenen persönlichen “Big Bang”, geschaffen von der ersten Berührung
des Künstlers, aber dann bewegt (erschafft) sich alles automatisch: Die Hände sind schneller als der Kopf, das einzelne Zeichen “ruft” das nächste, und so weiter bis zur Vervollständigung, bis zum “Ende des Raums”, das in unserem Fall der “kontrollierbaren”Grenze des Bildes entspricht.
Einige Titel sind, wie bereits in anderen Texten angesprochen, emblematisch – “ La natura nasce a destra o a sinistra” (Die Natur entsteht rechts oder links), “La natura si svolge e si avvolge” (Die Natur entwickelt und umwickelt sich), “Lo spazio diminuisce col crescere della natura” (Der Raum schwindet mit dem Wachsen der Natur)…-aber sie enthüllen auch diese Methode, die mit Leichtigkeit die darstellende und naturmimetische Absicht mit einigen der das 20. Jahrhundert kennzeichnenden malerischen Praktiken zu mischen versteht, ausgehend von der Aufmerksamkeit, die sich nur auf den Raum der Leinwand richtet, die zwischen den ausgebreiteten Armen Platz findet, um schließlich zu einer erneuerten Version des Dripping zu gelangen.
Wie ein Weltschöpfer, der zu respektieren ist, definiert Scaiola alsbald die Grenzen der eigenen Arbeit, räumliche Grenzen, strategische Grenzen, die einzige Möglichkeit den Zufall, den Automatismus der Händen, die Schnelligkeit des Malens zu beherrschen.
So ist auch in den neuesten Bildern- die Serie “Nebbia” (Nebel), wo die Farben sich geändert haben: Weiß, blau, himmelblau, wie die unzähligen Tröpfchen, die den Nebel bilden – die Praxis des Dripping viel offensichtlicher als anderswo, die Zufälligkeit der Tropfen passt perfekt in die Grenzen, die der Künstler “seiner” Natur, d.h. seinem Bild gesetzt hat. Das Bewusstsein um die Grenzen und seine klare Angabe gleich zu Beginn ist paradoxerweise die Erkenntnis, die es ermöglicht, den Kopf zu befreien und sich das Unendliche jenseits dieser Grenze vorzustellen. Wenn Scaiola also Formate, Formen, Farben (alle ziemlich wesentlich, ganz einfach funktionell für die Hauptaussage) definiert, übermittelt er eine Art genetischen Code der eigenen Phantasie, und je einfacher dies ist, umso mehr konzentriert sich die Tiefe des Blicks auf das globale Projekt. In seinem Fall geht das über die einfache Darstellung der Natur hinaus, um zu versuchen, sich dem Prozess der Natur zu nähern, ihn zu “imitieren”. Kunst als Imitation der Natur.